Page 7 - Gösger Woche - KW 4 - 2022
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DIENSTAG, 25. JANUAR 2022                                                                                                                                    SEITE 7





                                       «Heute ist Tierschutz nötiger denn je!»




          Der Tierschutz begleitet Esther                                                                     scheitert ist. Leider haben zu  so kostengünstig und pflege-
          Geisser schon von Kindsbei-                                                                         diesem Thema viele Politiker  leicht, wie man landläufig be-
          nen an. Die Präsidentin und                                                                         eine vorgefasste Meinung, oft  hauptet. Je älter die Tiere wer-
          Gründerin von NetAP – Net-                                                                          auch weil sie selbst zu den Hal-  den, desto öfter brauchen sie
          work for Animal Protection                                                                          tern gehören, die ständig Nach-  den Tierarzt. Eine Zahnsanie-
          gibt Einblick über ihre tägli-                                                                      wuchs produzieren. Auch wer-     rung zum Beispiel, wie sie bei
          che Arbeit und das immense                                                                          den viele Unwahrheiten erzählt,  den meisten Katzen irgendwann
          Tierleid, dem viele gleichgültig                                                                    so behauptete zum Beispiel ein  anfällt, kostet sehr schnell 1000
          gegenüberstehen.  Sie  spricht                                                                      Berner Grossrat bei der Abstim-  Franken. Ist man überzeugt,
          über Katzenelend, das ihr                                                                           mung über Massnahmen gegen  dass man einem oder mehreren
          Team mit sogenannten Kastra-                                                                        das Katzenelend im Kanton  Tieren ein ideales Zuhause bie-
          tionstagen bekämpft, über die                                                                       Bern, dass es einen Katzenman-   ten kann, sollte man die neuen
          Vision einer staatlichen Unter-                                                                     gel auf vielen Höfen gäbe. Ich  Familienmitglieder im Tierheim
          stützung und das grosse Enga-                                                                       hatte mich mit ihm umgehend  finden, denn da warten  meist
          gement der Freiwilligen.                                                                            in Verbindung gesetzt, weil wir  unzählige Vierbeiner auf ein gu-
                                                                                                              regelmässig Plätze für viele Kat-  tes Zuhause. Im Tierheim hat
          Sie sind die Gründerin der Tier-                                                                    zen suchen und Bauernhöfe für  man Zeit, den neuen Freund
          schutzorganisation NetAP. Wie                                                                       verwilderte Katzen geradezu  in Ruhe kennenzulernen. Be-
          ist NetAP entstanden?                                                                               ideal sind. Nicht überraschend  hauptungen, Tiere aus Tier-
          Esther Geisser: NetAP wurde                                                                         konnte er mir nicht einen einzi-  heimen seien verhaltensauf-
          2008 durch mich und zwei wei-                                                               Bilder: zVg  gen Hof nennen.             fällig kommen meist von Leu-
          tere erfahrene Tierschützer  Esther Geisser, Präsidentin und Gründerin von NetAP – Network for Animal                                ten, die keine Ahnung haben.
          gegründet, nachdem wir alle  Protection: «Die Politik sollte endlich hinschauen und ihre Pflicht wahrneh-  Hat  Corona  das  Katzenelend  Mit dem Tierheim hat man zu-
          schon zuvor viele Jahre aktiv  men und das Problem nicht weiter ignorieren.»                        noch vergrössert?                dem einen verlässlichen Part-
          im Tierschutz waren. Dabei sind                                                                     Unbedingt. Während des Lock-     ner zur Seite, der einem bei der
          uns zwei Dinge aufgefallen, die  In den Wintermonaten, wenn  bei ist zu bedenken, dass jede  downs im letzten Jahr durften  Auswahl und bei allfälligen Pro-
          wir besser machen wollten. Ers-  die Katzen nicht schwanger sind  herrenlose und verwilderte Katze  Tierarztpraxen nur Notfälle an-  blemen beraten kann. Klappt es
          tens hatten wir den Eindruck,  und auch keinen Nachwuchs zu  in der Schweiz ihren Ursprung  nehmen. Viele Praxen taxierten  ausnahmsweise doch nicht mit
          es würde zu viel Spendengeld  versorgen haben, kastrieren wir  bei einer Katze mit Halter hat,  das Kastrieren von Katzen nicht  dem Zusammenleben, nimmt
          von grossen Verwaltungsappa-     praktisch jedes Wochenende in  der nicht kastrieren wollte. Eine  als solche. Dadurch wurde noch  ein Tierheim in aller Regel den
          raten verschluckt werden und  verschiedenen  Kantonen.  Da-       Kastrationspflicht würde vieles  weniger kastriert und entspre-    Mitbewohner auch  wieder  zu-
          zweitens störten wir uns da-     für bauen wir unser Feldlaza-    erleichtern. Denn jeder Wurf,  chend gab es noch mehr Nach-        rück. Möchte man noch  mehr
          ran, dass oft nicht zusammen-    rett in geeigneten Räumlichkei-  der absichtlich produziert wird,
          gearbeitet wurde. Doch gerade  ten auf und kastrieren mit unse-   verschlimmert die Situation der
          im Tierschutz sind das Teilen  rem Team zwischen 40 und 100  Katzen. Beispiele aus dem Aus-
          von «Best practise», die Zusam-  Katzen pro Tag. Diese werden  land zeigen, dass – entgegen
          menarbeit und der Austausch  zuvor eingefangen, zum Beispiel  der Meinung der Schweizer Be-
          elementar, um nachhaltige Ver-   auf Höfen, in Schrebergärten,  hörden und Politiker – sich die
          änderungen  herbeizuführen,  Wäldern, auf Fabrikarealen und  Mehrheit der Halter freiwillig an
          ob im In- oder Ausland. Netz-    überall da, wo es herrenlose oder  ein solches Gesetz hält und ent-
          werken,  um  bessere  Resultate  verwilderte, unkastrierte Kat-   sprechend die Kastrationszahlen
          für alle erzielen zu können, er-  zen hat. Die Katzen werden aber  massiv ansteigen würden, ohne
          schien uns als etwas, was viel zu  nicht bloss kastriert. Sie wer-  dass der Staat hierfür Ressour-
          wenig getan wird.                den ausserdem gründlich unter-   cen schaffen müsste. Bis es so
                                           sucht, gegen innere und äussere  weit ist, sollten Tierschutzorga-
          Was sind die Aufgaben und Ziele  Parasiten behandelt, markiert,  nisationen darauf achten, Kolo-
          von NetAP?                       geimpft und wenn weitere Ein-    nien immer vollständig zu kas-
          Wir konzentrieren uns auf die  griffe für eine gute Lebensqua-    trieren, auch wenn das manch-
          Verbesserung der Lebenssitua-    lität nötig sind, werden auch  mal sehr zeitaufwändig ist. Oft
          tion sogenannter Nutztiere und  diese  durchgeführt  (zum  Bei-   sind wir an Orten tätig, wo be-
          Strassentiere, weil wir da über  spiel Zähne ziehen, Wundver-     reits zuvor Kastrationen ermög-
          ein umfassendes Wissen und  sorgungen oder gar eine Ampu-         licht wurden, leider aber nur für
          viel praktische Erfahrung ver-   tation). Katzen, die noch nicht  einen Teil der Katzen. Das ist
          fügen. Bei ersterem spielen vor  fit genug sind, um am anderen  nicht nachhaltig.
          allem Aufklärung und Sensibili-  Tag wieder in ihr angestammtes
          sierung eine zentrale Rolle. Bei  Revier zurückzukehren, neh-     Die Unterstützung der Behör-
          Letzteren sind Kastrationen der  men wir stationär auf und ver-   den ist nicht gross. Was wün-     NetAp kastriert in den Wintermonaten praktisch jedes Wochenende in ver-
          absolute Schwerpunkt, weil sich  sorgen sie, bis sie gesund sind.   schen Sie sich von Seiten der  schiedenen Kantonen.
          dadurch zukünftiges Leid nach-                                    Politik?
          haltig vermeiden lässt.          Wie viele solche Kastrations-    Die Politik sollte endlich hin-   wuchs. Auch  holten sich viele  tun, gibt es viele Möglichkeiten
                                           tage führen Sie jährlich durch  schauen und ihre Pflicht wahr-     Menschen aus Einsamkeit oder  wie Freiwilligenarbeit im Tier-
          Was motiviert Sie, sich jeden  und  wie  viele  Katzen  werden  nehmen und das Problem nicht  Langeweile Katzen ins Haus,  schutz, Spenden oder man kann
          Tag für die Tiere einzusetzen?   dabei kastriert?                 weiter ignorieren. Sie sollten  die sie wieder loswerden woll-     für ein nicht platzierbares Tier
          Tierschutz begleitet mich  Wir führen jeweils zwischen 8  sich anhören, was wir zu sagen  ten, als Homeoffice vorbei war  eine Patenschaft übernehmen
          schon von Kindsbeinen an,  und 12 solcher Kastrationswo-          haben und nicht ständig Ausre-    und man wieder reisen durfte.  und so helfen, dessen Lebens-
          und heute ist Tierschutz nöti-   chenenden – wir müssen am  den bringen, ohne die Fakten  Da die Tierheime aber voll wa-             unterhalt zu bestreiten.
          ger denn je. Leider sehen viele  Tag vorher einfangen und am  zu kennen, warum eine solche  ren bzw. die Abgabe oft kosten-
          Politiker, Behörden und auch  Tag nachher freilassen – durch.  Pflicht nicht möglich bzw. nicht  pflichtig ist – vor allem wenn  Wie finanzieren Sie ihre Aktivi-
          Teile der Gesellschaft das im-   Je nach Grösse der Räumlich-     nötig sei.                        sie ungeimpft und unkastriert  täten?
          mense Tierleid nicht bzw. ste-   keiten und des Teams werden                                        sind – wurden zahlreiche Tiere  Unsere  Aktivitäten  finanzie-
          hen diesem gleichgültig gegen-   bis zu 100 Katzen pro Tag kast-  Wie wird die Politik darauf sen-  ausgesetzt (meist unkastriert),  ren sich ausschliesslich durch
          über. Aber Tiere sind nun mal  riert, es können aber auch mal  sibilisiert und welche Progno-       manche wohl auch einfach ge-     Spenden. Wir bekommen kei-
          die Schwächsten in unserer Ge-   nur 20 sein. Wegen Covid-19  sen haben Sie bezüglich staat-        tötet.                           nerlei staatliche Unterstützung.
          sellschaft, fühlen ebenso Angst  sind  die Teams  etwas  kleiner  licher Unterstützung?                                              Besonders zu erwähnen ist, dass
          und Schmerz wie wir. Tiere be-   als sonst und die Anzahl Katzen  Von einer staatlichen Unter-      Was kann jeder Einzelne tun,  NetAP durch viele Freiwillige
          reichern das Leben in verschie-  sind in diesem Jahr maximal 80.  stützung können wir nur träu-     um  das  Tierelend  zu  reduzie-  getragen wird, was uns ermög-
          dener Weise ungemein. Da ist                                      men. Solange es kaum Politi-      ren?                             licht, die Spendengelder direkt
          es für mich eine Selbstver-      Das Katzenelend ist in der  ker gibt, die sich ernsthaft mit  Generell sollte man sich vor  in den Tierschutz zu stecken. Es
          ständlichkeit, dass ich für sie  Schweiz  gross.  Wieso  und  wie  dem Thema auseinandersetzen,  der Anschaffung eines Haustie-      muss nicht erst ein grosser Ver-
          einstehe. Ich bin glücklich da-  kann man diesen Missstand be-    wird es schwer. Im Moment ha-     res mit den Bedürfnissen der  waltungsapparat bezahlt wer-
          rüber, dass ich das jeden Tag  kämpfen?                           ben wir in den Kantonen Zü-       betreffenden Spezies beschäfti-  den, bevor wir aktiv die Lebens-
          machen darf, aber auch trau-     Die Anzahl an Katzen wächst  rich und Basel Stadt den Vor-         gen und gut überlegen, ob man  situation von Tieren verbessern
          rig, dass es jeden Tag nötig ist.   von Jahr zu Jahr, und jene, die  stoss von Politikerinnen pen-  denen auch wirklich über eine  können.
                                           leiden,  ebenfalls.  Wir  kommen  dent, die vielleicht kantonal  lange Zeit gerecht werden kann.
          Sie führen sogenannte Kastra-    nicht nach mit dem Kastrieren  etwas erreichen können, nach-       Katzen zum Beispiel können               www.netap.ch
          tionstage durch. Was muss man  all der verwilderten Katzen, weil  dem das leider auf Bundesebene  ohne weiteres 20 Jahre alt wer-
          sich darunter vorstellen?        es ständig Neuzugänge gibt. Da-  mit der Petition von 2018 ge-     den und sind bei weitem nicht         Interview: Corinne Remund
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